M. Taatz-Jacobi u.a.: Die Universität Halle und der Berliner Hof (1691–1740)

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Titel
Die Universität Halle und der Berliner Hof (1691–1740). Eine höfisch-akademische Beziehungsgeschichte


Autor(en)
Taatz-Jacobi, Marianne; Pečar, Andreas
Reihe
Wissenschaftskulturen. Reihe III: Pallas Athene – Geschichte der institutionalisierten Wissenschaft (55)
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
351 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffen Hölscher, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Georg-August-Universität Göttingen

Die gängigen Eckpunkte für die vermeintliche Erfolgsgeschichte der Universität Halle in den ersten Dekaden ihres Bestehens bis 1740 sind rasch umrissen: Unter der Ägide des brandenburg-preußischen Kurfürsten Friedrich III. und auf Anregung des ehemals Leipziger Gelehrten Christian Thomasius Anfang der 1690er-Jahre gegründet, entwickelte sich die neue Einrichtung dank einer gezielten Berufungs-, Wissenschafts- und Verwaltungspolitik durch den brandenburg-preußischen Staat, seine Behörden und vor allem seine Amtsträger sowie durch das Wirken einiger zugstarker und reformwilliger Professoren zur einer der modernsten und attraktivsten Hochschulen im Alten Reich. Als Zentrum der Bildungsbewegungen von (Früh-)Aufklärung und Pietismus gleichermaßen1 lieferte die Neugründung in Halle ihrerseits wirksame Impulse für eine innere und äußere Erneuerung der „dahinsiechenden“ und „verkrusteten“ älteren deutschen Universitäten, indem sie bspw. neue Formen der Beziehungen zwischen Universität und Obrigkeit auslotete. Als Reformuniversität par excellence war sie prägend zunächst für die Göttinger Universitätsgründung, der „zweiten Paradehochschule der Aufklärung nach Halle“ (S. Martus) – die dann zugleich auch aufgrund einer verbesserten und effizienteren staatlichen Lenkung einen seit ca. 1730 einsetzenden Niedergang der Fridericiana weiter befördern sollte. Soweit das in die Konstruktion einer teleologischen Entwicklung der deutschen Universitäten seit der Reformation eingepasste Narrativ.2

Die universitätshistorische Forschung hat diese Erzählung hinsichtlich einzelner frühneuzeitlicher Universitäten (auch Halles) und am Beispiel prägnanter Aspekte ihres Verhältnisses zu vermeintlichen Reformvorhaben, inneren wie äußeren Erneuerungsbestrebungen oder obrigkeitlichen Steuerungsmechanismen wie bspw. der finanziellen Ausstattung von Universitäten bereits mehrfach fundiert hinterfragt.3 Ausgehend von eigenen Arbeiten zur Fridericiana und zu deren Interpretation als Reform- und Innovationsuniversität4 widmen sich Marianne Taatz-Jacobi und Andreas Pečar nun mit der vorliegenden Studie in einer Art Gesamtschau dem Kern dieses aus ihrer Sicht von „grenzenlos[em]“ (S. 11) Steuerungs- und Neuerungsoptimismus geprägten Narrativs. Dabei nehmen sie diejenigen staatlichen und nichtstaatlichen Akteursgruppen sowie deren letztlich am Berliner Hof zusammenlaufenden Kommunikationswege in den Blick, die politisch, inhaltlich und strukturell Anteil nahmen an der Ausgestaltung der Universität Halle, „sofern es ihnen gelang, für ihre Positionen Gehör zu finden“ – und zwar bei den jeweiligen (politischen) Entscheidungsträgern (S. 23). Methodisch lassen sich die beiden Autor:innen dabei von Anregungen der politik- und sozialwissenschaftlich geprägten Steuerungs- und Governance-Forschung leiten. Ziel ist es dabei nicht allein, das in der älteren Forschung dominierende herrschaftliche Handeln zu analysieren und zu hinterfragen, sondern auch hinsichtlich der Steuerungsimpulse nichtstaatlicher Akteure „die herrscherliche Politik oder das Regierungshandeln oder die Einbeziehung des Herrschers und seiner Amtsträger […] besser zu verstehen“ (S. 21) und somit ein differenziertes Bild der Gründungs- und Wirkungsgeschichte der Universität Halle bis 1740 fernab des Mythos „Reformuniversität“ zu zeichnen.

Für die quellenreiche Analyse werden insgesamt fünf Themenfelder und Problemkreise bearbeitet, an denen sich nach Taatz-Jacobi und Pečar die Steuerungsabsichten und -effekte besonders anschaulich erörtern lassen. So wird in einem ersten thematischen Kapitel die Gründung der Universität und die damit verbundene Frage behandelt, ob diese als brandenburg-preußische Landesuniversität oder gezielt als Reformhochschule mit intendierter Wirkung in die Universitätslandschaft des Alten Reichs etabliert wurde. Die Autor:innen zeigen in Auseinandersetzung vor allem mit der älteren Forschung auf, dass die Gründung in Halle zwar maßgeblich auf eine Initiative des aus Leipzig geflüchteten Juristen Christian Thomasius zurückging und unmittelbar mit dessen Übernahme in brandenburg-preußische Dienste und seinen Verbindungen nach Berlin zusammenhing. Letztlich konnte sich dieser aber mit seinen Anregungen für eine neuartige Universität unter seinem Direktorat gegen Berliner Amtsträger nicht durchsetzen; gegründet wurde in Halle eine Universität, „die überall der Tradition bereits bestehender Landesuniversitäten folgte“ (S. 62) und eben nicht explizit an strukturellen oder inhaltlichen Neuerungen (bspw. Lehrfreiheit oder Religionstoleranz) orientiert war.

Ein weiterer Abschnitt widmet sich der vermeintlichen Krisenzeit der Universität um 1730 und stellt die Kommunikation zwischen Akteuren in Berlin, Magdeburg und Halle um deren wahrgenommenen Niedergang, mögliche Gründe dafür und adäquate Mittel dagegen in sein Zentrum. Nachdem aus unbekannter Quelle Gerüchte um den Verfall der Universität an König Friedrich Wilhelm I. gelangt waren – verantwortlich dafür waren wohl Vertreter der Stadt Halle oder der örtliche Regimentskommandeur Leopold von Anhalt-Dessau – engagierte sich der Landesherr persönlich in dieser Angelegenheit, auch da „das Ansehen und das Wohlergehen der Universität Halle gleichsam Staatsräson war“. (S. 90) Die bislang etablierten Verfahrens- und Kommunikationswege sowie die normativ zugeordneten Instanzen umgehend, namentlich den zuständigen Oberkurator Friedrich Ernst von Knyphausen, war es ausgerechnet der König, der eine Verstetigung verlässlicher „Rahmenbedingungen für die Kommunikation von Steuerungshandeln“ (S. 91) verhinderte und dadurch einer Hochschulgovernance im modernen Sinne ausdrücklich im Wege stand.

Die Berufungspraxis an der Fridericiana wird in einem vierten Themenbereich beleuchtet. Insgesamt zehn Berufungsverfahren, deren Ablauf wie an vielen anderen Universitäten im Alten Reich nicht normiert und an denen unterschiedliche Akteursgruppen beteiligt waren, werden exemplarisch analysiert, darunter Berufungen aus der Gründungs- sowie aus der Krisenphase der Universität, Initiativbewerbungen und die bereits mehrfach in der älteren Forschung behandelte Rückberufung des Philosophen Christian Wolff 1740. Ein inhaltlicher Schwerpunkt wird auf die Theologische Fakultät gelegt, bei der hochschulpolitische Steuerungsimpulse von Professoren, Amtsträgern oder dem Berliner Hof zudem mit den Richtlinien brandenburg-preußischer Konfessionspolitik in Einklang zu bringen waren. Taatz-Jacobi und Pečar legen detailreich dar, dass kein eigentlicher Masterplan für eine personelle Besetzung der Universität bestand, sondern die letzte Entscheidung bei Berufungen stets beim König lag und bestimmt war von der jeweiligen Nähe der entsprechenden Fürsprecher oder Antragssteller zum Thron.

Die beiden letzten und umfangreichsten Kapitel der Studie wenden sich inner- und außeruniversitären Konflikten und damit einem der klassischen Themenbereiche der modernen, kulturwissenschaftlich orientierten Universitätshistoriographie zu – im Fokus stehen hier einerseits die prominenten Konflikte um Christian Thomasius und Christian Wolff sowie die Streitigkeiten innerhalb der Theologischen Fakultät um die konfessionspolitisch von Berlin gewünschte Vereinheitlichung der Ausbildung lutherischer Pfarramtskandidaten für Preußen. Taatz-Jacobi und Pečar deuten diese Konflikte innerhalb der Universität unter anderem als Steuerungsversuche von unten – im Fall der beiden prominenten Professoren um Rang und Stellung innerhalb der Gesamtuniversität, im Fall der Angehörigen der Theologischen Fakultät um die konkurrierende Auslegung der konfessionspolitischen Vorgaben aus Berlin. Hier wie auch bei den im letzten Abschnitt dargelegten Konfliktfeldern zwischen Universitätsangehörigen und konkurrierenden Sozialgruppen innerhalb der Stadt Halle (städtische Gesellschaft, Militär, Handwerker) zeigen die beiden Autor:innen nachdrücklich auf, dass die Durch- und Umsetzung von Steuerungsinitiativen einerseits durch die Nähe der Konfliktparteien zum Thron und – zumindest im Fall Friedrich Wilhelms I. – den jeweiligen Interessen des Landesherrn bestimmt war, andererseits durch unklare Zuständigkeiten der einbezogenen Behörden (in Magdeburg, Halle und Berlin).

Mit ihrer „höfisch-akademischen Beziehungsgeschichte“ legen Marianne Taatz-Jacobi und Andreas Pečar eine differenzierte Perspektive auf die ersten Dekaden der Hallischen Universitätsgeschichte vor. Besonders im Hinblick auf das traditionelle Bild der Fridericiana als erste inhaltlich und organisatorisch intendierte Reformuniversität im Alten Reich erweist sich der von ihnen gewählte Ansatz als fruchtbar einerseits für eine Tiefenanalyse der politischen, organisationalen und individuellen Ausgestaltung einer Universität durch ihre Angehörigen und die für sie verantwortlichen Amtsträger, Behörden und politisch Verantwortlichen. Andererseits erlaubt er einen dezidierten Einblick in die Praktiken, das Verständnis, die Rahmenbedingungen und die Kommunikationswege von Herrschaft in Brandenburg-Preußen unter den Landesherren Friedrich III./I. und Friedrich Wilhelm I. am Beispiel der Universität Halle. Der Band leistet somit einen wichtigen und ergänzenden Beitrag zur Entmystifizierung des überkommenen Forschungskonstrukts „Reformuniversität Halle“ und eröffnet methodisch zugleich einen weiteren Sehepunkt auf historische, aktuelle und zukünftige Problemstellungen von Steuerung und Governance an Hochschulen und die dabei involvierten Akteursgruppen.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu z.B. die einschlägigen Beiträge in Norbert Hinske (Hrsg.), Zentren der Aufklärung. Bd. 1: Halle. Aufklärung und Pietismus, Heidelberg 1988.
2 Es waren vor allem die Arbeiten Notker Hammersteins, die diese Sichtweise auf die Universität Halle vor dem cultural turn prägten. Stellvertretend seien hier nur genannt: Ders., Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, sowie die Beiträge in: ders. (Hrsg.), Universitäten und Aufklärung (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa 3), Göttingen 1995, besonders den einleitenden Überblick von Anton Schindling, Die Protestantischen Universitäten im Heiligen Römischen Reich im Zeitalter der Aufklärung, in: ebd., S. 9–19. Vergleichbare Ansätze lieferte auch die universitätshistorische Forschung in der DDR, hier sei nur verwiesen auf einschlägige Arbeiten zu Einzelaspekten der Hallischen Universitätsgeschichte von Günter Mühlpfordt, Hans-Joachim Kertscher oder Heinz Kathe. Zur „Paradehochschule“ vgl. Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 547.
3 Vgl. z.B. zur Universität Jena Ulrich Rasche, Die deutschen Universitäten zwischen Beharrung und Reform. Über universitätsinterne Berechtigungssysteme und herrschaftliche Finanzierungsstrategien des 16. bis 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 10 (2007), S. 13–33; zum Steuerungsinstrument der Finanzierung von Universitäten vgl. die Beiträge in Elizabeth Harding (Hrsg.), Kalkulierte Gelehrsamkeit. Zur Ökonomisierung der Universitäten im 18. Jahrhundert (Wolfenbütteler Forschungen 148), Wiesbaden 2016.
4 Hinsichtlich (konfessions-)politischer Vorgaben bei der Universitätsgründung und deren Umsetzung vgl. Marianne Taatz-Jacobi, Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik – Motive, Verfahren, Mythos (1680–1713) (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 13), Berlin 2014; mit Blick auf Reform und Innovation vgl. Daniel Fulda / Andreas Pečar (Hrsg.), Innovationsuniversität Halle? Neuheit und Innovation als historische und als historiographische Kategorien (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 63), Berlin 2020.

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